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Ort: Reutlingen, Deutschland
Format: Text
Thema: Politik
Datum: 12.10.2019
Portal: www.oannesjournalism.com
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Die Türkei stürzt die ganze Region ins Chaos
Interview im Reutlinger General – Anzeiger am Freitag, 11. Oktober 2019 geführt und inzwischen bereits bittere Wahrheit. Erschienen am 12. Oktober 2019. In der Druckversion wurde der Artikel gekürzt. Hier die Langversion
"Simon Jacob prophezeit einen neuen PKK-Guerillakrieg, den Zerfall des SDF und weitere Flüchtlingsströme."
GEA: Die türkische Invasion im syrischen Grenzgebiet könnte die gesamte Region wieder ins Chaos stürzen. Sie haben das Gebiet beiderseits der syrisch-türkischen Grenze kürzlich bereist und die Vorbereitungen der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) auf einen Angriff der Türken gesehen. Welche Gefahren gehen von diesem türkischen Einmarsch aus?
Simon Jacob: Die derzeitige Lage ist hochgradig gefährlich für Syrien, den Irak und auch für die Türkei selbst. Hinzu kommt, und da halten sich die Kurden in der Türkei natürlich noch bedeckt, dass die kurdische PKK in der Türkei eine weitere Front aufmacht, um letzten Endes auch die Türkei ins Chaos zu stürzen. Ich spreche hier von einem Guerillakampf. Nicht zuletzt muss man auch mit schweren Anschlägen in der Türkei rechnen.
GEA: Der SDF stellte die Masse der Bodentruppen im Kampf gegen die IS-Miliz. Nun richtet sich die türkische Offensive ganz offen gegen den SFD, der mit den syrisch-kurdischen YPG-Kämpfern gleichgesetzt und die als Terroristen bezeichnet werden. Welche Folgen hat das für dieses Bündnis der Anti-IS-Kräfte?
Jacob: Es besteht die sehr große Gefahr, dass der SDF, der zu 60 bis 70 Prozent aus sunnitisch-syrischen Arabern und zum kleineren Teil aus Kurden der YPG besteht, sich zersplittert oder ganz auseinanderfällt. Außerdem kämpfen im SDF noch turkmenische und christliche Einheiten. Die Türkei propagiert nach außen, dass es sich ausschließlich um Kurden handelt. Die arabischen Kämpfer des SDF, die alle sunnitischen Stämmen angehören, fühlen sich durch den Abzug der US-Soldaten in ihrer Ehre verletzt und von Amerikanern wie Europäern im Stich gelassen. Sie könnten daher den SDF verlassen und sich anderen Akteuren anschließen. Diese Gefahr ist groß. Für den IS gäbe es natürlich nichts besseres, als dass der SDF auseinanderfallen würde.
GEA: Der SDF unterhält auf seinem Gebiet große Camps, in denen IS-Kämpfer und -Anhänger gefangen gehalten werden. Es gibt erste Meldungen, dass IS-Kämpfer aus dem Lager al-Hol flüchten, in dem es am Einmarschtag der Türken schon zu Aufständen kam.
Jacob: Der IS könnte schnell wiedererstarken, wenn Dschihadisten in Masse aus diesen Zonen fliehen. Im al-Hol-Camp leben 75 000 ehemalige IS-Kämpfer, IS-Anhänger und -Unterstützer mit ihren Familien. Darunter befinden sich wohl auch 136 Deutsche. Wenn es dem harten Kern der Kämpfer gelingt, im Chaos der Invasion aus dem Lager zu fliehen, dann liegt es nahe, dass sie ihre Aktivitäten in Syrien, im Irak und der Türkei wieder ausweiten werden. Viele werden in den Irak zurückkehren und diesen wieder destabilisieren. Das heißt, mit einem Schlag haben wir wieder einen Mehrfrontenkampf.
GEA: Besteht Gefahr für Europa?
Jacob: Diese Extremisten könnten bei den zu erwartenden und bereits einsetzenden Flüchtlingsbewegungen auch nach Europa gelangen. Das ist ein toxisches Gemisch. Die Türkei spielt derzeit mit der Stabilität der gesamten Region, soweit diese noch vorhanden war, aber auch mit der Stabilität Europas.
GEA: Welche Rolle spielt der syrische Machthaber Assad in dieser Situation?
Jacob: Assad nutzt die chaotische Lage. Er zeigt sich als Beschützer der Region. Als 2010/11 ersichtlich war, dass er in Bedrängnis geraten würde, hatte er freiwillig die Macht in der Kurdenregion abgegeben an die Kurden, Araber und Christen dort. Nun könnte er als Gegenleistung für die Beteiligung am Kampf gegen die Türken zur Sicherung der syrischen Grenze die Rückgabe dieser Autonomie einfordern. Das Chaos ausnutzen und gleichzeitig perfekt machen könnten schiitische Milizen aus dem Iran und aus dem Irak. Sie könnten versuchen, sich über die Ninive-Ebene und den Norden von Syrien bis zum Libanon auszubreiten.
GEA: Ein Grund für die türkische Invasion ist, die Kurdenregion zu zerschlagen,, zu schwächen, zu kontrollieren und die kurdischen Kräfte zu bekämpfen. Es heißt aber, die Türkei möchte in dieser Schutzzone syrische Flüchtlinge zwangsweise ansiedeln. Was hat es damit auf sich?
Jacob: Tatsächlich geht es der Türkei vor allem um die Erschließung von Siedlungsgebieten, um arabisch-syrische Flüchtlinge in kurdisch und christlich bewohnten Regionen anzusiedeln, wo sie nie beheimatet waren. Man kann sich vorstellen, dass das zu schweren Verwerfungen und neuen Flüchtlingsströmen führt. Viele flüchten bereits in jene Teile Syriens, wo noch ein Mindestmaß an Sicherheit gegeben ist
GEA: Flüchtlinge sorgen für weitere Flüchtlingsströme, die sicherlich nicht nur in Syrien selbst nach ruhigeren Plätzen suchen.
Jacob: Viele werden auch in den Libanon fliehen. Der Libanon ist aber schon überbelastet. Viel werden also Europa ins Visier nehmen. Denn eines ist auch klar: die Türkei wird ihre Grenzen komplett dicht machen und niemanden mehr reinlassen.
GEA: Was ist von der Drohung des türkischen Präsidenten zu halten, Syrienflüchtlinge aus der Türkei nach Europa zu lassen.
Jacob: Ich glaube, dass er nur damit droht. Erdogan ist in einer wirtschaftlich schwierigen Situation. Er muss Stärke auch nach innen demonstrieren. Hinzu kommen nun die Kosten dieses Feldzuges. Erdogan kann sich ein schlechteres Verhältnis zu Europa eigentlich nicht leisten.
GEA: Das hört sich so an, als hätten die Europäer einen Hebel in der Hand, um Erdogan vielleicht auch zum Stopp der Invasion zu zwingen.
Jacob: Europa muss außen- und sicherheitspolitisch an einem Strang ziehen. Das heißt gleichzeitig, dass es seine Grenzen nach außen komplett absichern muss. Das geht nur einvernehmlich. Der Rückzug der Amerikaner aus Nordsyrien hat letztlich bewiesen, dass die Europäer auf sich allein gestellt sind. Das sollten sie endlich zur Kenntnis nehmen und sich auch darüber im klaren werden, dass die Stabilität Europas ganz maßgeblich von den Entwicklungen im Nahen Osten abhängt.
GEA: Wie kann der Angriff der Türken noch gestoppt werden?
Jacob: Die Europäer müssen ihre Wirtschaftsmacht nutzen und die Türkei unter Druck setzen. Sie müssen in der UNO auf eine Resolution drängen, um diesen Einmarsch zu verurteilen. Sie sollten auch darüber nachdenken, unter einem UN-Mandat in der Region mittel- bis langfristig aktiv zu werden. Die Deutschen müssen sich gleichzeitig eingestehen, dass unter Umständen auch Bundeswehrsoldaten daran beteiligt sein könnten. Wir können einfach nicht mehr so tun, als ob uns das alles nichts angeht.
Wir danken Jürgen Rahmig für die Erlaubnis, das Interview veröffentlichen zu dürfen.
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