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Autor: Simon Jacob
Ort: Delmenhorst, Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Politik
Datum: 11.06.2019
Portal: www.oannesjournalism.com
Textdauer: ca. 8 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Wählen orthodoxe Christen die AfD?
Wählen orthodoxe Christen die AfD?
Vor der Syrienkrise lebten in Deutschland schätzungsweise 100.000 deutsche Staatsbürger, deren Vorfahren zwischen 1960 und 1990 aus dem südostanatolischen Raum in der heutigen Türkei, teils aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen der Konflikte vor Ort, nach Europa geflüchtet waren. Die meisten davon gehören der Syrisch-Orthodoxen Kirche an, welche fachlich zu den altorientalischen Kirchen gezählt wird. Weitere Bürger mit christlich nahöstlichem Hintergrund kamen hinzu. Viele von Ihnen besitzen mittlerweile ebenfalls einen deutschen Pass.
Wenn man die konfessionellen Unterschiede außer Acht lässt und den territorialen Maßstab als auschlaggebende Komponente betrachtet, bilden die Mitglieder der Griechisch – Orthodoxen Kirche, dem byzantinischen Kirchenritus zuzuordnen und nicht mit den Altorientalen gleichzusetzen, mit über 400.000 Mitgliedern die größte Denomination nahöstlicher Christen in Deutschland. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet ist die Pontos-Region in der heutigen Türkei. Viele von ihnen sind während des Bevölkerungsaustausches zwischen der nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten türkischen Republik und Griechenland nach Deutschland geflohen und halten hier das Erbe ihrer Vorfahren hoch. Nach wie vor gibt es in Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens byzantinische Urgemeinden, zu denen zum Beispiel die Mitglieder der Rum.-Orthodoxen Kirche in der Türkei (Provinz Hatay) und Syrien zählen. Hinzu kommen und kamen über 40.000 armenisch-stämmige Staatsbürger, die der Armenisch – Apostolischen Kirche angehören. Viele von ihnen lebten einst auch im Iran, im Irak oder in der heutigen Türkei. Durch die Golfkriege und den Syrienkrieg sind die Zahlen der Chaldäer, die mit der römisch-katholischen Kirche uniert sind, sowie der Assyrisch – Apostolischen Kirche, der Melkiten, der Syrisch-Katholischen Kirche, der Maroniten usw. ebenfalls stark angestiegen. Aus dem nordafrikanischen Raum sind es überwiegend ägyptische Kopten, Eritreer und Äthiopier, die den christlich – altorientalischen Kirchen angehören und in Deutschland, viele von ihnen inzwischen ebenfalls deutsche Staatsbürger, eine neue Heimat gefunden haben.
In der Summe sprechen wir von mehreren 100.000 Staatsbürger, die alle exakt zwei Gemeinsamkeiten haben.
- Die Angst vor dem Politischen Islam. Manche machen hierbei keinen Unterschied zwischen spiritueller Glaubensauslegung und dem mit der Scharia als Rechtskorpus versehenen Gesellschafsmodell des politisierten Islams.
- Viele von ihnen haben einen deutschen Pass und gehen, im Verhältnis zu den alteingesessenen Deutschen, überproportional oft wählen.
Im Juni des aktuellen Jahres, kurz nach den Europawahlen, wurde ich in der Nähe von Bremen von einer der größten syrisch-orthodoxen Gemeinden in das nördlich gelegene Delmenhorst eingeladen, um meine aktuelle Dokumentation PEACEMAKER – EUROPA, DAS FRIEDENSPROJEKT, mit anschließender Podiumsdiskussion, vorzustellen. Im Vorfeld der Veranstaltung wurde über die sozialen Medien dafür Werbung geschalten, was zur Folge hatte, dass ich als Referent und Produzent des Films mit politischen Fragen bzw. Aussagen konfrontiert wurde. Eines der Themen betraf die AfD, mit dem Hinweis verbunden, dass Mitglieder der syrisch – orthodoxen Gemeinde sich der AfD zugeneigt fühlten, manche sogar inzwischen auf kommunaler Ebene politische Ämter bekleideten. Ich wurde nun aufgefordert dazu Stellung zu beziehen. Dies führte nach der Filmvorführung zu intensiven und heftigen Debatten zwischen dem Publikum und mir und auch innerhalb des Publikums selbst, welches aus „urdeutschen“ und mit dem syrischen Christentum verbundenen „neudeutschen“ Mitbürgern bestand.
Während der teilweise äußerst emotionalen Debatten kristallisierte sich heraus, dass gerade die „urdeutschen“ Mitbürger den Frust deutsch – nahöstlicher Christen überhaupt nicht verstehen und auch nicht verstehen können. Im Besonderen die Angst vor „dem Islam“, aufgrund des traumatischen und historische Genozids an den Christen im Osmanischen Reich während der Wirren des Ersten Weltkrieg als politische und alles beherrschende Komponente, wird nur von wenigen Politikern in Deutschland verstanden. Es könnte auch der CDU/CSU, der SPD, den Gründen, der FDP und der Linken ziemlich egal sein - wenn da nicht die Tatsache im Raum stünde, dass die vielen deutschen Staatsbürger nun einmal berechtigterweise auch einen deutschen Pass in den Händen halten und damit verbunden besonders eifrig das Wahlrecht nutzen, um, teils aus Wut und Frust, teils verbunden mit Hoffnungen, dort ihr Kreuz zu setzen, wo es die „noch“ etablierten Parteien am meisten schmerzt.
Nun könnte man natürlich seitens der Politik die Behauptung aufstellen, man hätte das nicht ahnen können. Doch ist solch eine Aussage zu hinterfragen – denn gerade in meiner ehrenamtlichen Funktion als Vorsitzender des Zentralrates Orientalischen Christen in Deutschland und als Nahost – Journalist, der nahe an der deutsch – christlichen Community ist, habe ich seit Jahren Politiker auf die angestaute Wut hingewiesen. Im Übrigen waren und sind auch die großen Westkirchen Adressaten der angestauten Wut, Frustration und Sorgen - manche von ihnen sind begründet und nachvollziehbar - die erst überrascht aufhorchten, als es bewiesenermaßen in Flüchtlingsheimen Übergriffe von radikalen Muslimen auf Christen, Jesiden, Schiiten, Alawiten, Homosexuelle, Frauen, Kurden, liberale Sunniten… gab. An den Recherchen damals war ich persönlich beteiligt.
Eine andere große Gruppe in Deutschland, die einen deutschen Pass in den Händen hält und wählen geht, dürfte aus ähnlichen Gedanken wie die Christen aus dem Nahen Osten, ebenfalls punktuell die AfD wählen: es ist die Gruppe der Aussiedler und Spätaussiedler, die nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches nach Deutschland kam und hier fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft wurde und welche ihre, in der Vergangenheit begründeten Ängste und Sorgen an der Wahlurne zum Ausdruck bringt. Auch das ist Realität.
Als vor Jahren bereits Vertreter wie ich in meiner Funktion als Vorsitzender des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland, aber auch als Journalist mit einschlägigen Erfahrungen in Europa und im Nahen Osten, auf die aufkommenden und besorgniserregenden Zustände hinwiesen, war es so, als ob man gegen eine zwar freundliche, aber dennoch ignorante Wand reden würde; die einem zwar temporär zuhörte, aber dennoch von oben herab betrachtete und mehr oder weniger belächelte.
Die Quittung für eine Politik der Ignoranz bekommen die „noch“ etablierten Parteien, in Anbetracht ihrer Ohnmacht gegenüber der mehrsprachigen und intensiven Kommunikation in den sozialen Medien, mehr als verdient.
Vielleicht lernt man daraus - die Hoffnung stirbt bekanntlich immer zuletzt.
Simon Jacob
Augsburg, 23.06.2019
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